BV Krankmeldeprozess vs. betriebliche Übung

  • Liebe BR-Kollegen,

    nachdem unser Gremium erst kürzlich gewählt wurde und alle (drei) Mitglieder noch KEINERLEI Vorerfahrungen haben,
    sehen wir morgen unserem ersten Termin mit der HR-Abteilung entgegen.
    Thema ist der Prozess der Krankmeldung. Bisheriges Procedere:
    Der Arbeitnehmer meldet sich unmittelbar krank. Dieser Krankenstand kann drei Tage ohne AU genommen werden, ab dem 4.ten Krankentag benötigt der Arbeitnehmer eine AU. Nun hat der Arbeitgeber (ohne Rückssprache mit dem Betriebsrat) per Email eine "Änderung im Krankmeldeprozess" verkündet, in der es heißt, dass ab sofort bereits ab dem 3.ten Krankentag eine AU benötigt wird. Rein rechtlich kann der Arbeitgeber diesen Zeitraum so festlegen - da das ganze jedoch ohne Mitbestimmung des Betriebsrates umgesetzt wurde, ist es unwirksam.
    Daher haben wir in den letzten Tagen (gemeinsam mit einer Kanzlei die unseren BR unterstützt und berät) eine Betriebsvereinbarung zum Thema "Krankmeldeprozess" ausgearbeitet. In dieser schreiben wir den bisherigen Prozess (AU ab dem 4.ten Krankentag) fest. Nun rechne ich damit, dass die HR-Abteilung hier ein Veto einlegen und den Prozess wie von ihr gewünscht (AU ab dem 3.ten Krankentag) durchsetzen möchte.

    Nachdem ich erst relativ ratlos war, was wir denn da nun tun könnten, fiel mir das Stichwort "betriebliche Übung" aus dem BetrVG Teil 1 Seminar ein.
    Der bisherige Prozess der Krankmeldung (AU ab dem 4.ten Arbeitstag) wird bereits jahrelang so im Unternehmen praktiziert.
    Meines Erachtens (und auch nach dem, was ich ergooglet habe ;) ) kann man daher von einer betrieblichen Übung sprechen; bedeutet, die Arbeitnehmerseite hat einen rechtlichen Anspruch auf das bislang praktizierte Procedere.


    Wie seht ihr das, liege ich hier richtig?

    Ich freue mich auf Rückmeldungen!

    Vielen Dank & viele Grüße
    Patrik

  • Tut mir leid, aber eine betriebliche Übung kann beim Procedere der Beibringung von AU-Bescheinigungen nicht verargumentiert werden.


    Klar ist aber, der AG kann eine Änderung des Prozesses wegen der Mitbestimmung nicht einseitig umsetzen - er hat mit dem Mail einen Rechtsverstoß begangen, der zu korrigieren ist. D.h. er muss diese Arbeitsanweisung unverzüglich zurücknehmen und mit Änderungen warten, bis er darüber eine Einigung mit dem BR erzielt hat.


    Die kriegt er notfalls erst in der E-Stelle. Ob ihm das den Aufwand wert ist?

    "Wenn Arbeit etwas schönes und erfreuliches wäre, hätten die Reichen sie nicht den Armen überlassen." (Paul Lafargue)

  • sorry, aber ihr erarbeitet mit einem Anwalt eine BV aber die Frage der betrieblichen Übung stellst Du hier, verstehe ich nicht.

    ich kann mir aber, so wie Fried, nicht vorstellen dass hier eine betriebliche Übung entstanden ist.

    Nicht die Dinge sind positiv oder negativ, sondern unsere Einstellung macht sie so. (Epiktet, gr. Philosoph)

  • Hallo,


    wie Fried richtig dargestellt hat, gibt es für diesen Prozess keine "betriebliche Übung".


    Allerdings kann der BR dem AG im laufenden Mitbestimmungsverfahren jederzeit einseitige kollektive Maßnahmen untersagen lassen.

    Dazu gehört auch die Verkürzung der Nachweispflicht gem. § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG, wenn diese für alle oder eine definierte Gruppe von AN gelten soll.

  • sorry, aber ihr erarbeitet mit einem Anwalt eine BV aber die Frage der betrieblichen Übung stellst Du hier, verstehe ich nicht.

    ich kann mir aber, so wie Fried, nicht vorstellen dass hier eine betriebliche Übung entstanden ist.

    Nunja, das ist ganz einfach erklärt: Auf den Gedanken kam ich gestern Nachmittag.
    Die Anwältin, die uns zur BV berät, ist seit Montag im Urlaub.

    Daher habe ich es mir erlaubt, die Frage hier zu stellen.
    Fand ich erstmal nicht verwerflich - ist es aber doch?

  • Hallo Patrik,


    mit der betrieblichen Übung wird es schwer. Aber gilt bei euch ein Tarifvertrag? dann schau mal ob dort was drinsteht.

    Oder steht ggf. schon etwas zur Krankmeldung bei euch im Arbeitsvertrag?

    Wenn beides zu verneninen ist dann gilt zuerst einmal §5 EntgFG.

    Und für die kollektive Änderung der Krankmelderegelung ist die Zustimmung des BR notwendig.


    Viele Grüße

    Bernd

  • Fand ich erstmal nicht verwerflich - ist es aber doch?

    Ist es nicht.


    Dass Eure Anwältin allerdings die Frechheit besitzt, einfach Urlaub zu machen, ist ein Unding. 8o

    "Wenn Arbeit etwas schönes und erfreuliches wäre, hätten die Reichen sie nicht den Armen überlassen." (Paul Lafargue)

    Einmal editiert, zuletzt von Fried ()

  • mit der betrieblichen Übung wird es schwer. Aber gilt bei euch ein Tarifvertrag? dann schau mal ob dort was drinsteht.

    Oder steht ggf. schon etwas zur Krankmeldung bei euch im Arbeitsvertrag?

    Wenn beides zu verneninen ist dann gilt zuerst einmal §5 EntgFG.

    Vielen Dank, Bernd.
    Weder im MTV noch im Arbeitsvertrag steht etwas hierzu.

    Ich bin gespannt auf die Gesprächrunde heute ;)

  • Aber gilt bei euch ein Tarifvertrag? dann schau mal ob dort was drinsteht.

    Wenn der TV nichts dazu regelt, seid Ihr in der Mitbestimmung. Übrigens auch unabhängig davon, ob die AVe etwas anderes regeln, denn - salopp gesagt - BV beats AV.

    "Wenn Arbeit etwas schönes und erfreuliches wäre, hätten die Reichen sie nicht den Armen überlassen." (Paul Lafargue)

    2 Mal editiert, zuletzt von Fried ()

  • ich würde aber den MA zunächst mal raten, die Anweisung des AG umzusetzen, bis die "Rechtslage" und ggf. die BV dazu geklärt sind.


    Ich mag da "übervorsichtig" sein, aber eine Anweisung des AG zu ignorieren die nicht offensichtlich sittenwidrig oder strafbar ist, halte ich für "nicht ohne Risiko"

    Die Scheu vor der Verantwortung ist eine Krankheit unserer Zeit, denn Macht ohne Verantwortung ist wie ein Feuer außer Kontrolle.


  • Hallo,


    das man bis zur Klärung den AN auf der individualrechtlichen Ebene raten sollte, die Anweisung vorsichtshalber einzuhalten, ist nachvollziehbar.

    Aber der BR sollte im kollektivrechtlichen Bereich den AG sofort schriftlich mit Verweis auf die erzwingbare Mitbestimmung des § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG unter (relativ kurzer) Fristsetzung auffordern, die Anweisung zurückzunehmen, solange es keine betriebliche Vereinbarung gibt. Auch sollten für den Fall der Weigerung des AG schon vorausschauend rechtliche Schritte und auch die Beauftragung eines Anwalts zur Rechtsdurchsetzung zu beschließen.

    Das Vorgehen des AG rechtfertigt auch, für die Beschlussfassung eine Sondersitzung anzusetzen.

    Die Beschäftigten dürfen und sollen vom BR über sein Vorgehen in diesem Punkt informiert werden.


    PMBR_DE : Das ist für einen frisch gewählten BR natürlich kompliziertes Neuland. Kompetente Anwälte bieten aber Hilfestellung bei den betriebsverfassungsrechtlich notwendigen schritten bis hin zur Formulierung von Beschlussvorlagen an. Wenn Eure Anwältin keine Solo-Kanzlei hat, kann ja über das Prozedere vielleicht jemand anderes aus der Kanzlei informieren/beraten.

  • Ich danke euch allen vielmals für eure Hinweise, Tipps und Hilfestellungen.


    Aber der BR sollte im kollektivrechtlichen Bereich den AG sofort schriftlich mit Verweis auf die erzwingbare Mitbestimmung des § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG unter (relativ kurzer) Fristsetzung auffordern, die Anweisung zurückzunehmen, solange es keine betriebliche Vereinbarung gibt.

    Das ist auch unmittelbar passiert - daraus resultierte dann der Wunsch, eine BV auszuarbeiten.

  • Das ist auch unmittelbar passiert - daraus resultierte dann der Wunsch, eine BV auszuarbeiten.

    Aber hat der AG diese Anweisung denn nun explizit zurückgenommen bzw zugesagt, das unverzüglich zu tun?

    "Wenn Arbeit etwas schönes und erfreuliches wäre, hätten die Reichen sie nicht den Armen überlassen." (Paul Lafargue)

  • Jetzt muss ich der ganzen Harmonie doch etwas in den Kaffee spucken!

    Habt ihr im Vorfeld die Kollegen mal befragt, ob dieser eine Tag früher die AU abgeben überhaupt ein Problem für sie darstellt?

    Da ihr rechtlich das selbstverständlich nicht so hinnehmen müsst, weil die Mitbestimmung unterwandert wurde ist richtig. Aber solchen Firlefanz nutzt man doch dazu, um für die Kollegen eine richtige Verbesserung zu erzielen. Mit so einem Elfmeter kann man richtig dicke Bretter bohren.

    "Arbeitgeber, du möchtest AU ab dem 3. Tag? Na ja, kannst du haben, wenn unsere MA dafür XYZ bekommen."


    Rechtlich mögt ihr das alles richtig machen. Taktisch wäre es hier klug, die MA mit ins Boot zu holen um an anderer Stelle eine Verbesserung zu erzielen.

    1. Ein MA der wirklich krank ist, dem ist es egal ob AU ab dem 3. oder 4. Tag, der wird ohnehin zum Arzt gehen

    2. Ich war ja schon in einigen Firmen. Da ist AU ab dem 3. Tag Standard. Kannte ich bisher nur kürzer, aber nicht länger.

  • Mit so einem Elfmeter kann man richtig dicke Bretter bohren.

    "Arbeitgeber, du möchtest AU ab dem 3. Tag? Na ja, kannst du haben, wenn unsere MA dafür XYZ bekommen."

    wie willst Du den damit "dicke Bretter" bohren?

    "dicke Bretter" sind zusätzliche freie Tage, Prämien oder ähnliches?


    abgesehen davon, würde ich das für kostenlose Warmgetränke auch nicht "verkaufen".


    würde mich auch wundern, wenn ein AG sich damit "unter Druck" setzen lässt


    1. Ein MA der wirklich krank ist, dem ist es egal ob AU ab dem 3. oder 4. Tag, der wird ohnehin zum Arzt gehen

    und den "Blaumachern" kann der AG auch anders "auf die Schliche" kommen

    Die Scheu vor der Verantwortung ist eine Krankheit unserer Zeit, denn Macht ohne Verantwortung ist wie ein Feuer außer Kontrolle.


    Einmal editiert, zuletzt von Randolf () aus folgendem Grund: Ein Beitrag von Randolf mit diesem Beitrag zusammengefügt.

  • Randolf

    Natürlich kann der AG den Blaumachern anders auf die Schliche kommen. Je mehr ich diesen Leuten aber die Komfort Zone nehme, um so schneller sind diese zu identifizieren.

    Ich lege grundsätzlich ab dem 1. Tag eine AU vor, auch wenn ich das nicht muss. Wenn ich mich krank melde, dann bin ich auch krank und gehe zum Arzt. Dann soll der auch den Zettel für den AG ausfüllen.

    Bin ich nur nicht in Form oder habe einen Anflug von erhöhter Unlust, rufe ich den Chef an und nehme frei. Bin zum Glück in der Situation, dass das meist unkompliziert geht. Ich weiss, hat nicht jeder.


    Ein dickes Brett sind z.B. Umzieh- Rüst- und Wegezeiten (sofern es die nicht schon gibt - was meiner Erfahrung nach in den meisten Firmen zu Lasten der Mitarbeiter geht).

    Ein dickes Brett sind flexiblere Arbeitszeiten. Sogenannter Zeitrucksack, wo der Mitarbeiter 30 Minuten vorne dran oder hinten dran hängen kann und flexibel mal früher gehen kann, wenn Bedarf besteht. Das geht auch innerhalb von Schichtmodellen tadellos. Ansonsten haben Schichtarbeiter ja eher wenig Möglichkeiten Überstunden zu machen, außer mit Zusatzschichten. Und somit auch wenig Möglichkeiten mal früher zu gehen.


    Wenn der AG etwas möchte, kann man dem wohlwollend entgegen treten, sofern man für die Mannschaft auch was bekommt. Umsonst gibt es nichts. Zumal ich hier auch keine nachvollziehbare Begründung gelesen habe, warum der AG das will. Scheint ihm ja wichtig zu sein, wenn er dafür §87 missachtet und Tatsachen schafft.

  • Vorweg muss ich sagen, dass ich den pauschalen Verdacht des Blaumachens ziemlich übel finde und nichts unterstützen wollte, was dem entgegen kommt, auch den Begriff Komfortzone finde ich vollkommen unpassend.


    Das EntgFG definiert den Standard, der AG kann davon kollektiv nur über BV abweichen. Punkt. Die Mitbestimmung ist kein "Firlefanz". Was soll diese Wortwahl?


    Ich habe hier bislang kein inhaltliches Argument gelesen, mit dem der AG das begründet hätte. Und um Inhalte geht es. Der BR muss für seine Entscheidungsfindung auch keine Umfragen machen, und das wird er oft genug auch gar nicht können.

    "Wenn Arbeit etwas schönes und erfreuliches wäre, hätten die Reichen sie nicht den Armen überlassen." (Paul Lafargue)

  • Der BR muss für seine Entscheidungsfindung auch keine Umfragen machen

    was ich persönlich für kontraproduktiv halten würde.

    Man wird bei jeder Umfrage zu einem unklaren oder strittigen Thema mMn max. ein Verhältnis 40/60 oder 60/40 erreichen, außer bei Themen die von vornerein klar sind (Mehr Geld, mehr Urlaub, kostenfreies xyz etc.).

    Bei eindeutigen Theman brauche ich keine Umfrage machen und bei den anderen richte ich für den BR mehr Schaden als Nutzen an.

    Außer den MA bekommen auch AG die Umfrage mit und damit schwäche ich meine Position gegenüber dem AG.

    Dazu kommt das eine Großteil der MA sich fragt: "Erst fragen die mich und dann machen sie es doch wie sie wollen/anders"


    Ich habe die Erfahrung: nicht zuviel fragen, sondern besser im Nachhinein die Entscheidungen erklären, damit kommt man besser zurecht und das wird eher akzeptiert (abgesehenen davon, sind wir dafür auch gewählt worden)

    Die Scheu vor der Verantwortung ist eine Krankheit unserer Zeit, denn Macht ohne Verantwortung ist wie ein Feuer außer Kontrolle.