Persönliches Leistungshindernis bei akuter Erkrankung naher Angehöriger mit denen man zusammenlebt (außer Kindern, Ehepartner) im Sinne von §616 BGB

  • In unserer Firma gibt es ein paar Regelungen zu bezahltem Sonderurlaub, die in einer Betriebsvereinbarung festgehalten sind.

    Was nicht abgebildet ist: Wenn Arbeitnehmer mit nahen Angehörigen (z.B. pflegebedürftigen Eltern) zusammenleben und diese nahen Angehörigen akut erkranken, so dass z.B. Fahrt und Begleitung ins Krankenhaus notwendig werden.

    Nun gibt es ein Urteil vom BAG (vom 20.06.1979, 5 AZR 479/77), das zu dem Schluss kam, dass unvorhersehbare Erkrankungen naher Angehöriger, die die häusliche Pflege durch einen Arbeitnehmer erfordern, als persönliches Leistungshindernis im Sinne von § 616 BGB gelten.

    Dazu habe ich dann noch die folgende Anmerkung gefunden: "Dies kann die Erkrank­ung eines Kindes, aber auch eines Ehepartners sein."


    Frage: Kann das auch die akute Erkrankung eines nahen, pflegebedürftigen Angehörigen sein, den man in der eigenen Wohnstatt pflegt?

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  • Hallo Maulwurf,

    ja das kann sein, allerdings muß vorher geprüft werden ob es auch ein anderer Angehöriger des Haushalts übernehmen kann und in deinem Fall schau mal genau in eure BV rein, ob dort nicht drinsteht, dass mit dem gewährten/vereinbarten Sonderurlaub die Ansprüche des §616 BGB abgegolten sind bzw. abschließend geregelt sind, denn dann gibt es keine Ansprüche mehr die über das vereinbarte hinausgehen. So etwas kann aber auch in einem TV oder AV drinstehen.


    Viele Grüße

    Bernd

  • Maulwurf2 , § 616 BGB kann über TV oder AV abbedungen werden, d.h. wenn dort entsprechende abschließende Listen von Anlässen, die zu diesen Anspruch führen, existieren, dann hilft auch ein BAG-Urteil zu einem weiteren Tatbestand nicht weiter. Du schreibst aber von einer BV? Soweit ich weiß, ist es gesichert, dass die Betriebsparteien eine Vereinbarung zur Abbedingung des § 616 BGB nicht abschließen können, diese ist damit ungültig.


    Ganz abgesehen davon ist das Urteil aber von 1979, und seitdem hat sich die Rechtslage bzgl Pflege naher Angehöriger massiv verändert, es gibt das PflegeZG, das FPfZG usw. - bzgl möglicher Ansprüche müssten die neueren einschlägigen Regeln konsultiert werden.

    "Wenn Arbeit etwas schönes und erfreuliches wäre, hätten die Reichen sie nicht den Armen überlassen." (Paul Lafargue)

    Einmal editiert, zuletzt von Fried ()

  • § 616 BGB kann über TV oder AV abbedungen werden, d.h. wenn dort entsprechende abschließende Listen von Anlässen, die zu diesen Anspruch führen, existieren, dann hilft auch ein BAG-Urteil zu einem weiteren Tatbestand nicht weiter.

    Das ist vollkommen richtig.

    Allerdings ist die Erkrankung pflegebedürftiger Angehöriger, welche mit im Haushalt des AN leben, meist ein Bestandteil dieser abschließenden Liste. Zumindest in den Tarifverträgen die mir so bekannt sind.

    „Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend erklärbar ist“

    Hanlons Rasiermesser

  • Hallo Maulwurf


    Schau mal hier:

    § 2 Pflegezeitgesetz - kurzzeitige Arbeitsverhinderung


    (1) Beschäftigte haben das Recht, bis zu zehn Arbeitstage der Arbeit fernzubleiben, wenn dies erforderlich ist, um für einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen in einer akut aufgetretenen Pflegesituation eine bedarfsgerechte Pflege zu organisieren oder eine pflegerische Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen.

    (2) 1Beschäftigte sind verpflichtet, dem Arbeitgeber ihre Verhinderung an der Arbeitsleistung und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen. 2Dem Arbeitgeber ist auf Verlangen eine ärztliche Bescheinigung über die Pflegebedürftigkeit des nahen Angehörigen und die Erforderlichkeit der in Absatz 1 genannten Maßnahmen vorzulegen.

    (3) 1Der Arbeitgeber ist zur Fortzahlung der Vergütung nur verpflichtet, soweit sich eine solche Verpflichtung aus anderen gesetzlichen Vorschriften oder auf Grund einer Vereinbarung ergibt. 2Ein Anspruch der Beschäftigten auf Zahlung von Pflegeunterstützungsgeld richtet sich nach § 44a Absatz 3 des Elften Buches Sozialgesetzbuch.




    Hierzu kann ich den Verein Pflegende Angehörige e.V. empfehlen. Die Gründer und Mitglieder stehen mit Rat und Tat zur Seite. Auch als Gruppe auf einer großen Social Media Plattform vertreten.


    LG Oenothera

  • Mal eine dumme Nachfrage:

    Soweit ich weiß, ist es gesichert, dass die Betriebsparteien eine Vereinbarung zur Abbedingung des § 616 BGB nicht abschließen können, diese ist damit ungültig.

    Heisst das, solange kein TV oder BR vorhanden ist, kann der AG im Arbeitsvertrag den § 616 BGB einseitig ausschließen, aber sobald ein BR existiert und das Thema in Angriff nimmt, entsteht ein unverhandelbarer Anspruch? In unseren Arbeitsverträgen wurde ursprünglich auch der § 616 abbedungen, wir haben dann in einer BV das Recht auf Sonderurlaub bei Erkrankung von Familienangehörigen 1. Grades festgelegt, wozu Partner (auch unehelich), Kinder und Eltern (auch aushäusig, wenn pflegebedürtig) zählen und waren erstaunt, dass der AG ohne Feilscherei unterschrieben hat...

    Für einen Betriebsrat gilt: Lobt dich der Gegner, ist das bedenklich. Schimpft er, dann bist du in der Regel auf dem richtigen Weg. (August Bebel)

  • Hallo Ledertaschen Mann,

    also ich finde deine Frage absolut nicht dumm.

    Mich würde das auch interessieren, denn auch in unseren AV ist der 616 abgedungen und zwar generell.

    Was wäre denn, wenn ein AN nun zum AG sagt, ich will die Zeiten, die du mir abgezogen hast, vergütet habe, denn was du da machst ist nicht korrekt.

    Das Leben ist Veränderung

    Starte dort, wo du stehst!

    Aber versuche jeden Tag einen neuen Startpunkt zu finden!
    Benutze das, was du hast!

    Aber versuche jeden Tag etwas neues zu benutzen!
    Tu das, was du kannst!

    Aber versuche jeden Tag etwas mehr zu tun!

  • Der Mann mit der Ledertasche , ein AV ist niemals einseitig, sondern eine Übereinkunft zweier Parteien. Faktisch besteht aber natürlich ein Machtgefälle zwischen den AV-Parteien, auch deswegen unterliegen Passi, die den 616er abbedingen, der AGB-Kontrolle nach §§ 305ff BGB.


    Abgesehen davon ist die Kommentierung zum 616er in der Hinsicht halt sehr klar, es werden z.B. im ErfK abschließend nur AV und TV genannt. (Da das Abbedingen üblicherweise zu TV-Regelungen gehört, greift zusätzlich noch die Regelungssperre nach § 77 (3) BetrVG.)

    "Wenn Arbeit etwas schönes und erfreuliches wäre, hätten die Reichen sie nicht den Armen überlassen." (Paul Lafargue)

  • schau mal genau in eure BV rein, ob dort nicht drinsteht, dass mit dem gewährten/vereinbarten Sonderurlaub die Ansprüche des §616 BGB abgegolten sind bzw. abschließend geregelt sind, denn dann gibt es keine Ansprüche mehr die über das vereinbarte hinausgehen. So etwas kann aber auch in einem TV oder AV drinstehen.

    Hallo Bernd, alles "negativ": In der BV steht dazu nichts, in den Formulararbeitsverträgen, die wir kennen, auch nichts und einen TV gibt es nicht.

    Beschäftigte haben das Recht, bis zu zehn Arbeitstage der Arbeit fernzubleiben, wenn dies erforderlich ist, um für einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen in einer akut aufgetretenen Pflegesituation eine bedarfsgerechte Pflege zu organisieren

    Hallo Oenaothera, die Pflege ist bereits organisiert, es geht hier darum, dass ein (chronisch) Pflegebedürftiger akut erkrankt, z.B. stürzt und ins Krankenhaus muss. Insofern passt das das Pflegezeitgesetz, wo es ja um Pflege-Organisation geht, hier nicht.

    § 616 abbedungen

    Hm, das wäre jetzt vielleicht ein eigenes Thema?


    Also ich verstehe jetzt mein Anliegen dahingehend, dass keine(r) der bisherigen Kommentatoren so genau weiß, ob über Kinder und Ehepartner hinaus, der §616 auch für einen einwohnenden pflegebedürftigen Angehörigen "gezogen" werden kann.

    Beispiel: Ich bleibe der Arbeit fern, weil mein einwohnender pflegebedürftiger Angehöriger schwer stürzt und ins Krankenhaus gebracht und dort wegen seiner Pflegebedürftigkeit (Demenz) auch von mir begleitet und betreut werden muss.

  • Hallo Maulwurf,

    um Deine Frage konkret beantworten zu können, müsste man den genauen Text der BV kennen.

    Ist die Liste der Verhinderungen nach 616 so formuliert, dass sie abschließend ist? Oder handelt es sich um eine offene Liste mit Beispielen? Dann könnte man vielleicht argumentieren.


    Wir haben die Fälle nach 616 abschließend im TV geregelt, insofern habe ich keine Erfahrung mit dem 616 als Anspruchsgrundlage direkt. Er ist allerdings so allgemein gehalten, dass ich in diesem Fall nur wenig Hoffnung hätte.

    Wenn das Pflegezeitgesetz schon ausgereizt ist, bliebe evtl. noch die direkte Inanspruchnahme des Pflegebedürftigen selbst.

    • Hilfreichste Antwort

    Also ich verstehe jetzt mein Anliegen dahingehend, dass keine(r) der bisherigen Kommentatoren so genau weiß, ob über Kinder und Ehepartner hinaus, der §616 auch für einen einwohnenden pflegebedürftigen Angehörigen "gezogen" werden kann. Beispiel: Ich bleibe der Arbeit fern, weil mein einwohnender pflegebedürftiger Angehöriger schwer stürzt und ins Krankenhaus gebracht und dort wegen seiner Pflegebedürftigkeit (Demenz) auch von mir begleitet und betreut werden muss.

    Wenn der 616er nicht abbedungen ist, zählt das m.E. sicher dazu, zumindest wenn die Pflege anders nicht zumutbar gewährleistet werden kann.


    Meine zusammengefasste Meinung: Da es bei Euch dazu offensichtlich nur eine BV gibt und keine Regelungen aus AV und/oder TV, und da eine den 616er abbedingende BV ungültig ist, gilt formal der 616 uneingeschränkt, es besteht ein einklagbares Recht auch in diesem Fall. Aber das würde man ziemlich sicher gerichtlich klären müssen.

    "Wenn Arbeit etwas schönes und erfreuliches wäre, hätten die Reichen sie nicht den Armen überlassen." (Paul Lafargue)

    Einmal editiert, zuletzt von Fried ()

  • Hallo,


    hier kommt es auf die Reihenfolge an.

    Es muß immer geprüft werden, ob nicht ein Vergütungsanspruch aus § 616 BGB oder anderen gesetzlichen oder tarifvertraglichen Regelungen besteht, bevor eine Freistellung nach PflegeZG beantragt wird.

    Denn das PflegeZG selbst regelt keinen Vergütungsanspruch, sondern verweist auf § 44a SGB XI:

    § 44a SGB 11 - Einzelnorm (gesetze-im-internet.de)

    Wird ein Antrag auf Leistung nach § 44a SGB XI gestellt ohne Darlegung, daß § 616 BGB abbedungen ist und auch keine sonstigen Ansprüche bestehen, wird der Antrag aus formalen Gründen abgelehnt.


    Gem. der Fachkommentierung (ErfK, Preis, § 616 BGB Rn 9) kann zwar der Personenkreis des § 7 Abs. 3 PflegeZG

    § 7 PflegeZG - Einzelnorm (gesetze-im-internet.de)

    nicht ohne weiteres auf § 616 BGB übertragen werden, allerdings kann die Definition der "kurzzeitigen Arbeitsverhinderung" in § 2 PflegeZG

    § 2 PflegeZG - Einzelnorm (gesetze-im-internet.de)

    durchaus als "Anhaltspunkt" (ErfK, a.a.O.) für die Interpretation des § 616 BGB herangezogen werden.

  • um Deine Frage konkret beantworten zu können, müsste man den genauen Text der BV kennen.

    Hallo BMG, vielen Dank für deinen Beitrag, allerdings schreibt ja Fried, dass eine BV (vermutlich egal wie ihr genauer Text lautet) den §616 BGB nicht abdingen kann. Demnach wäre der Text der BV hier nicht entscheidend.

    Wenn das Pflegezeitgesetz schon ausgereizt ist,

    Ich hatte dazu weiter oben (zum Beitrag von Oenothera folgendes geschrieben:

    die Pflege ist bereits organisiert, es geht hier darum, dass ein (chronisch) Pflegebedürftiger akut erkrankt, z.B. stürzt und ins Krankenhaus muss.

    Will sagen: Das Pflegezeitgesetz, wo es ja um Pflege-Organisation geht, passt hier meines Erachtens nicht.



    hier kommt es auf die Reihenfolge an.

    Es muß immer geprüft werden, ob nicht ein Vergütungsanspruch aus § 616 BGB oder anderen gesetzlichen oder tarifvertraglichen Regelungen besteht, bevor eine Freistellung nach PflegeZG beantragt wird.

    Hallo albarracin, das hört sich ja sehr gut an. D.h. beim allem was mit Vergütung zu tun hat, immer erst die Gesetze abklopfen, die Vergütung beinhalten? Gibt es da einen bestimmten Rechtsgrundsatz, warum das so ist?


    Im Übrigen war der Anspruch auf einen Ausgleich für entgangenes Arbeitsentgelt (Pflegeunterstützungsgeld) für zehn Arbeitstage, der ja nur einmal pro Pflegefall möglich ist, bereits in der Vergangenheit (bei der erstmaligen Pflege-Organisation) geltend gemacht worden.


    Ich bin weiterhin der Auffassung, dass wenn (zusätzlich zur Pflege, z.B. wegen Demenz) ein akutes Schadensereignis auftritt (z.B. Treppensturz und Beinbruch) und ich für die gestürzte Person die Verantwortung übernehme (weil sie bei mir wohnt und ich auch in die Alltagspflege eingebunden bin), ich in so einem Notfall (wo ich die Person wegen ihrer Grunderkrankung auch nicht einfach den Fachkräften von der Feuerwehr überlassen kann) für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in meiner Person liegenden Grund ohne mein Verschulden an der Dienstleistung verhindert bin. Interessant wäre noch zu erfahren, ob es einen anrechenbaren Betrag gibt, welcher mir für die Zeit der Verhinderung aus einer auf Grund gesetzlicher Verpflichtung bestehenden Kranken- oder Unfallversicherung zukommt. Da kann ich mir im Moment noch nichts drunter vorstellen.

  • Hallo,


    Du solltest schon etwas sorgfältiger lesen, denn das hier

    D.h. beim allem was mit Vergütung zu tun hat, immer erst die Gesetze abklopfen, die Vergütung beinhalten?

    habe ich so nicht geschrieben.

    Und im speziellen Fall der Pflege ist der Vorrang des § 616 BGB durch den verlinkten § 44a Abs. 3 SGB XI geregelt.

  • Maulwurf2

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  • albarracin Vielen Dank für die gemachte Klarstellung, da hatte ich was falsch verstanden bzw. den §44a Abs.3 SGBXI nicht genau genug gelesen.


    Wenn der 616er nicht abbedungen ist, zählt das m.E. sicher dazu, zumindest wenn die Pflege anders nicht zumutbar gewährleistet werden kann.

    Fried Das Urteil vom BAG (vom 20.06.1979, 5 AZR 479/77) ist zwar alt, aber offensichtlich immer noch aktuell (und im Fall der Plfege vorrangig, wie von albarracin dargelegt) und durchaus hilfreich für den betroffenen Beschäftigten (weil das Arbeitsentgelt dann weitergezahlt wird).


    Kann man sich in der Diskussion mit dem Arbeitgeber wohl auf die Definition für "Nahe Angehörige" in der (steuerrechtlich bedeutsamen) Abgabenordnung in § 15 AO - Einzelnorm (gesetze-im-internet.de) berufen?


    Und wie wäre nachzuweisen, dass die Pflege nicht anders zumutbar ist?