Unterschied Gleitzeitstunden vs Überstunden/Mehrarbeit

  • Hallo zusammen,

    ich war bis jetzt eher gelegentlicher stiller Mitleser, bräuchte jetzt aber doch mal etwas Expertise.


    Vorab, in unserer Firma gibt es (noch?) keinen BR sondern "nur" einen Belegschaftsausschuss, dem ich seit kurzem angehöre.

    Folglich sind gerade in der Vergangenheit sehr, sagen wir mal AG-freundlich umgesetzt worden, was wir zumindest ein wenig ändern wollen.


    Folgende Problematik tut sich auf:

    Im MTV West der Chemie (ich habe nur Stand 2017, glaube aber dass das noch der aktuelle ist) wird die gleitende Arbeitszeit ermöglicht und das ist bei uns auch umgesetzt (wir sind tarifangelehnt und bis jetzt wurde auch alles an Verhandlungsergebnissen umgesetzt)

    Dort steht u.a. "Zeitschulden/-guthaben sind im Abrechnungszeitraum auszugleichen" etc.

    Ferner steht dort "Mehrarbeit ist die über die Dauer der betrieblichen Normalarbeitszeit ausschließlich der Pausen hinausgehende Arbeit, soweit sie ausdrücklich angeordnet war. Zeitguthaben sind keine Mehrarbeit."


    Später im MTV steht zum Thema Mehrarbeit folgender Passus:

    " Gelegentliche geringfügige Überschreitungen der täglichen Arbeitszeit sind bei Arbeitnehmern der Gruppen E9 bis E13 mit dem Tarifentgelt abgegolten"


    So und jetzt kommen wir zum eigentlichen Thema:

    Anfang des Jahres (nachdem man das stempeln für alle einführen musste und anscheinend gemerkt hat, wieviel Gleitzeitstunden sich auch und gerade bei den höher Eingruppierten aufsummieren) kam ein Brief vom Arbeitgeber, dass bei den Höhergruppierten, die bis dato auch Gleitzeit hatten und die nicht widerrufen wurde, am Ende des Monats die ersten 10 Überstunden (sprich Gleitzeit) gekappt werden, weil das ja lt TV abgegolten wäre. Man muss nicht mehr arbeiten, aber wenn man Gleitzeit aufbauen möchte, dann brauchts im Monat 10+x h.


    Seh ich das falsch, wenn ich der Meinung bin, dass diese Kappung so nicht korrekt ist, da es sich bei der mehr geleisteten Arbeit NICHT um angeordnete Mehrarbeit, sondern um ein freiwillig erarbeitetes Zeitguthaben handelt?


    Hinzu kommt, dass bei MA die Vorgesetzten Druck im Sinne von "natürlich kannst du am Monatsende 0 Plusstunden stehen haben, aber dann werte ich das als mangelnden Einsatz und über Gehaltserhöhung etc brauchen wir dann ja nicht mehr reden"


    Wie seht ihr das Ganze?


    Freue mich über jede Antwort

  • Hallo Jaxson DeVille,


    ich liebe unbestimmte Rechtsbegriffe.......


    Laut MTV sind laut deiner Aussage "gelegentlich geringfügige Überschreitungen der täglichen Arbeitszeit..........mit dem Tarifentgelt abgegolten" Hier stellt sich mir die Frage, was ist "gelegentlich" und was ist "geringfügig". Hier müsste man sich bei der Gewerkschaft mal erkundigen, ob es hier schon Fälle bei der Schlcihtungsstelle gab, und wie das beurteilt wurde.


    Generell würde ich aber eine pauschale Streichung von Stunden ablehnen. Es könnte ja sein, dass jemand 5 mal im Monat je 2 Stunden gemacht hat. dies wäre dann meiner Meinung nach keine geringfügige Überschreitung.


    Eher müsste man regeln, dass eine tägliche Überschreitung von X Minuten nicht gutgeschrieben wird.


    Ich würde es aber im Allgemeinen schon so sehen, dass in den höheren EG´s diese Zeit auch nicht dem Gleitzeitkonto gutgeschrieben wird. In der Regelung im MTV ging es scheinbar eher darum, dass es auf die Zeitguthaben auf dem Gleitzeitkonto keine Mehrarbeitszuschläge geben soll. Dies wird meist dadurch begründet, dass die Gleitzeitkonten irgendwann auch einmal wieder abgebaut werden und daher keine Mehrarbeit entsteht (zumindest im Gesamten betrachtet).


    LG

    Markus

    "Ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn alle unzufrieden sind" Aristide Briand

  • Ich würde es aber im Allgemeinen schon so sehen, dass in den höheren EG´s diese Zeit auch nicht dem Gleitzeitkonto gutgeschrieben wird.

    Im AT-Bereich kann man das vielleicht so sehen, aber wenn in den EG´s das reine Tarifentgelt gezahlt wird, sehe ich das dort nicht. Dafür müsste es schon einen Aufschlag geben, der das abdeckt.

    Gelegentlich wäre für mein Empfinden max 2x / Woche und geringfügig max. 15 Minuten (in Summe bis zu 2 Stunden/ Monat).

    Aber es wäre interessant, wie die Gewerkschaft das sieht.

  • Ich musste mich letzte Woche zu dem Thema von einem Arbeitsrichter belehren lassen, dass Mehrarbeit gesehen wird, wenn die IRWAZ (Individuelle Regel Wochenarbeitszeit) um mehr als 10% überschritten wird.

    Bei einer 35 Stunden Woche sind also 3,5 Stunden im Gleitzeitrahmen drin, wenn es nur einmal vorkommt auch mal 10 Stunden etc.

    Arbeitest du aber jede Woche mehr als über 10% deiner IRWAZ, so wäre Mehrarbeit zu beantragen.


    War ein Arbeitsrichter des LAG München, insofern traue ich dem schon eine gewisse Expertise zu.

  • Seh ich das falsch, wenn ich der Meinung bin, dass diese Kappung so nicht korrekt ist, da es sich bei der mehr geleisteten Arbeit NICHT um angeordnete Mehrarbeit, sondern um ein freiwillig erarbeitetes Zeitguthaben handelt?

    Nach meinem Verständnis siehst du das falsch, ja. Denn hier


    "Mehrarbeit ist die über die Dauer der betrieblichen Normalarbeitszeit ausschließlich der Pausen hinausgehende Arbeit, soweit sie ausdrücklich angeordnet war. Zeitguthaben sind keine Mehrarbeit."

    Ist die Mehrarbeit definiert. Die

    geringfügige Überschreitungen der täglichen Arbeitszeit

    ist aber explizit keine Mehrarbeit.


    Insofern bewegt sich der AG hier (leider) durchaus im Rahmen seiner Möglichkeiten.

    10 Stunden im Monat ist sogar noch deutlich unter

    Bei einer 35 Stunden Woche sind also 3,5 Stunden im Gleitzeitrahmen drin


    Als BR (den ihr ja leider nicht habt) würde ich hier auf zwei Dinge achten:

    Hinzu kommt, dass bei MA die Vorgesetzten Druck im Sinne von "natürlich kannst du am Monatsende 0 Plusstunden stehen haben, aber dann werte ich das als mangelnden Einsatz und über Gehaltserhöhung etc brauchen wir dann ja nicht mehr reden"

    Diesen Zahn sollte man dem AG schleunigst ziehen. Wenn er keine motivierten AN will - bitte, aber dann soll er sie auch in Ruhe lassen ;)

    Die Kollegen schulden die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit. No more, no less.


    Und, viel wichtiger noch: auf den Gleitzeitkonten werden alle Stunden über 10 im Monat "gesichert" sonst wird nämlich das beliebte Spiel gespielt: "Schade, dass ich dir diesen Monat nur 10 Stunden von deinen 12 streichen konnte. Aber macht nichts, die anderen zwei hole ich mir nächsten Monat..." Nein, alles über 10 Stunden ist safe und kann nur noch abgeglitten oder ausbezahlt werden.


    Das Problem bei euch, so wie ich das sehe, ist eure "Tarifnähe". Sprich ihr lehnt euch an, ohne aber Teil der Tarifparteien zu sein. Und damit ist es der Gewerkschaft völlig egal, wie ihr den TV auslegt und kann der AG mehr oder weniger tun und lassen was er will. Wer will ihn hindern? Ist ja nur eine Anlehnung...


    Und ihr solltet dringend den Weg der BR-Wahl gehen. Euer Belegschaftsausschuss mag gut gemeint sein. Aber gut gemeint ist leider nicht unbedingt das Gleiche wie gut gemacht. Euch fehlen (im Zweifelsfall) wesentliche Rechte um hier etwas durchzusetzen.

    Wer fragt ist ein Narr - für fünf Minuten. Wer nicht fragt bleibt ein Narr - sein Leben lang!

  • Hallo,


    auch ich sehe es so, daß Ihr in dieser Frage (und womöglich anderen auftauchenden) nicht weiterkommt ohne BR mit gesetzlich definierten Rechten.

    Alle diese "selbstgestrickten" Beteiligungsmodelle sind reine Schönwetterveranstaltungen und sind beim geringsten Dissens nichts wert.

  • Danke euch schon mal bis hierher, ja das Thema fehlender BR, fehlende Tarifbindung etc ist leider bekannt aber auch heikel. Viele MA's sind der Firma sehr wohlgesonnen und glauben, dass ein BR irgendwas zwischen unnötig und gefährlich ist. Auch weil Aussagen auf dem Flurfunk herumschwirren, dass man die Firma eher dicht macht, als dass man die Gewerkschaft im Haus haben möchte...ob und wieviel da dran ist, kann ich auch nicht sagen, aber es zeigt eigentlich, dass es wohl schwer werden würde, einen WA und danach einen BR zu etablieren.


    Ich muss aber zur "Rettung" des AG auch sagen, dass man schon alles mitgeht, was an tariflichen Ergebnissen erzielt wird. Selbst die Chemie-Pflegeversicherung haben wir umgesetzt, wenn auch nicht über die gewerkschaftliche PV sondern über einen Tarif bei einem "normalen" Versicherer. Deswegen verstehe ich nicht so recht, warum man sich dann nicht dem Tarif voll anschließt.


    Eurer Einschätzung nach, kann man also eigentlich nicht wirklich was in der aktuellen Konstellation machen. Gleitzeit ist damit de facto für E9 aufwärts gestorben, es sei denn man macht deutlich mehr als 10h im Monat.

    Der Punkt mit "die restlichen Stunden hol ich mir nächstes Jahr" ist definitiv etwas was wir uns anschauen werden.

  • Gleitzeit ist damit de facto für E9 aufwärts gestorben, es sei denn man macht deutlich mehr als 10h im Monat.

    Nicht grundsätzlich gestorben. Innerhalb eines Monats können sie ja immer noch gleiten. Nur größere "Rückstellungen" zu bilden wird schwerer.


    Hier solltet ihr einfach mal versuchen mit dem AG größere Zeiträume zu vereinbaren.



    "die restlichen Stunden hol ich mir nächstes Jahr"

    Vorsicht: nicht nächstes Jahr - nächsten Monat!


    Und noch einen Satz dazu

    dass man die Firma eher dicht macht, als dass man die Gewerkschaft im Haus haben möchte...

    Natürlich. Man schlachtet das Huhn, das goldene Eier legt, nur weil das Futter teurer wird... (Meint: wenn der AG/Inhaber kein Geld mehr verdienen will, kann er natürlich den Betrieb schließen, aber ich glaube so lange er damit noch Geld verdient, solange wird er das nicht wirklich machen. Und wenn, hat es nichts mit Gewerkschaft o.ä. zu tun.)


    Und nebenbei: Ja, geschichtlich betrachtet waren Betriebsräte mal der "verlängerte Arm der Gewerkschaft im Betrieb". Vor 100 Jahren. Heute ist das nur noch selten der Fall. Im Idealfall gibt es da ein gute Kooperation, aber das war es dann auch schon meistens...

    Wer fragt ist ein Narr - für fünf Minuten. Wer nicht fragt bleibt ein Narr - sein Leben lang!

  • Hallo,


    die Republik ist voll von Unternehmen, in denen irgendwann mal ein Vorstand oder ein Eigentümer etwas derartiges

    dass man die Firma eher dicht macht, als dass man die Gewerkschaft im Haus haben möchte...

    von sich gegeben hat und die jetzt einen BR und/oder Tarifbindung haben und wundersamer Weise immer noch wirtschaftlich arbeiten zB SAP:

    SAP: Mitarbeiter setzen SAP-Betriebsrat gerichtlich durch - Netzwirtschaft - FAZ

    Im Übrigen handelt sich ein Unternehmen mit einem BR nicht

    die Gewerkschaft

    ein, sondern BR-Mitglieder, die halt evtl. auch Gewerkschaftsmitglieder sind.


    Auch Dein Verständnis von BR ist in einem wichtigen Punkt falsch, denn diese Reihenfolge

    einen WA und danach einen BR zu etablieren.

    geht nicht.


    Einen Wirtschaftsausschuss (mit gesetzlich definierten Rechten) gibt es erst dann, wenn es einen BR gibt und der Betrieb das AN-Quorum des § 106 Abs. 1 BetrVG

    § 106 BetrVG - Einzelnorm (gesetze-im-internet.de)

    erfüllt.


    Und für eine BR-Gründung braucht es nur eine handvoll entschlossener AN, die idR auch Unterstützung, Rechtsberatung und Rechtsschutz von der zuständigen Gewerkschaft bekommen, wenn zumindest eine/r der Intiator*innen auch Mitglied ist. Eine Mehrheit der Beschäftigten für eine BR-Gründung ist vom Gesetzgeber bewußt nicht vorgeschrieben worden.

  • Einen Wirtschaftsausschuss (mit gesetzlich definierten Rechten) gibt es erst dann, wenn es einen BR gibt und der Betrieb das AN-Quorum des § 106 Abs. 1 BetrVG

    § 106 BetrVG - Einzelnorm (gesetze-im-internet.de)

    erfüllt.

    Ich gehe mal davon aus, dass Jaxson WV meinte, dann ergibt das auch Sinn. ;)

    „Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend erklärbar ist“

    Hanlons Rasiermesser